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Malte Brekenfeld,
Text aus Katalog „DIRK WUNDERLICH”, 2012


Lieber wunderlicher Freund und Kollege,
seit einer erstaunlichen Vielzahl an Tagen schon, heizen Maiensonne und stetiger Ostwind nun unser cirzipanisches Gefilde: schnelle Gewächse erblühen noch bevor sie Blattwerk bilden, Teiche laden zum Baden noch bevor die wintermatten Lurche ihre Laichschnüre an frühe Unterwasserhalme haben knoten können.

Dann ein Sonntag und meine Freundin sagt, die Nase in den blauen Himmel reckend: mir scheint, es riecht nach weitem Meer. Und tatsächlich hat der Wind einen Haken geschlagen über Nacht und bläst unerbittlich unterkühlt aus Richtung Island, die dumpfe Frühwärme vertreibend und rudimentär von dunklen nordischen Mythen kündend. Eine derartig meteorologisch rasante Wechselhaftigkeit würde der Biologe gleichsetzen mit einer sprunghaften Mutation.
Und ebenso sprunghaft lande ich, vertrieben aus dem wieder kalten Garten, im muffigen Arbeitszimmer, am flimmernden Bildschirm, Deine Arbeiten zu schauen, und zuallererst gewärtige ich den Eindruck, einer Sammlung perfekt sinnfrei mutierter Kreaturen gegenüber zu sitzen. Eine scheinbar sprunghafte Laune der Natur hat hier gewirkt: Seht her und staunt, raunt mir ein unsichtbarer Schöpfer zu, in dessen Brust gleichsam apollinisches und dionysisches Prinzip zu wesen scheint, dies Alles ist machbar!

Doch- ganz Rationalist weiss ich, hier warst ja Du auf Deine wunderliche Weise als Famulus des Schöpfers voller Lust und mit Bedacht am Werke!

Und innerlich begebe ich mich auf die Reise in die Zeit des jungenhaften Drängens als wir wirklich Forscher waren, Abenteurer und Entdeckungsreisende, als der elterliche Garten brünstiges Amazonien, Cooks Australien und Mungo Parks liederlich tödliches Afrika sein durfte. Als wir Versteinerungen, Vogelfedern, Eulengewölle und Knochen in Salamander- Schuhkartons sammelten und imaginäre Schlachten schlugen. Dem Legen des Ariadnefadens gleich, hast Du die seelische Verbindung zu dieser Zeit des Welteroberns nie gekappt. Im Gegenteil: Süchtig geworden bist Du mittlerweile nach blossen Knochen, den Trägern des Fleisches und der Höhle des Geistes. Das beinerne Grundgerüst beseelten Lebens hat Dich in seinen Bann gezogen, doch nicht, um des schnöden Studierenwollens dieser elementaren Materie geht es Dir sondern um das Transformieren derselben. Wie ist Was gewachsen, welchem Zweck folgt die Struktur, fragst Du wachen Auges, um die Struktur zu erweitern und das Wachsen zu verlängern. Permanent erfindest Du neu, indem Du Altbewährtes pfropfst. Natürlich kann Einem ein Rippenbogen aus der Nase wachsen, natürlich können kleine Füsschen wurzeln an chitinenem Gliederleib, der bislang Apendix- frei in der Sonne glänzte.

Was wäre Wenn? Dies ist Dein kalkulativer Ansatz. Und hast Du die ursächliche Anatomie frei transformiert, einen perfekten Humunculus geschaffen, verblüfft die exakte Form- vollendung, die neue Ästhetik. Da ist nicht nur angeklebt und zugespachtelt worden, da hat eine neue glaubhafte Form sich durchgesetzt und scheint dem Moment entgegen zu harren, aufstehen und loslaufen zu dürfen.

Deine skulpturalen Mutationen scheinen zielgerichtet im Wechsel hin zu neuer ästhetischer Formvollendung, nicht zielgerichtet jedoch hinsichtlich eines biomorphologischen Zweckes.
Dies bestimmt die künstlerische Qualität Deiner Arbeiten: deren Zweckfreiheit und reine funktionale Schönheit. Bewusst verzichtest Du auf illustratives Beiwerk, Ornament oder Fassade. Ein Kleid hat nur den einen Zweck, nämlich zu verführen, es fungiert als werbende Attitüde der Eitelkeit, es schützt zwar aber versteckt das Wesen. Trotz des glücklichen Verzichts auf ein illustratives Äusseres Deiner Arbeiten, verzichtest Du nicht auf die Möglichkeit der Narration. Im Gegenteil: in der Art und Weise wie Du Deine biomorphen Schöpfungen zur Schau stellst, räumst Du ihnen gleichsam die Chance ein, erzählend aufzutreten. Anders als in staubtrockenen archäologischen Sammlungen prähistorischer Absonderlichkeiten, lässt Du Deine Karkassen denkbarer Wesen jeweils einen Thron besteigen, theatralisierst ihre Präsenz somit und forderst von uns, den Betrachtern, zwangsläufig eine emotionale Reaktion. Plötzlich scheinen die Wesen beseelt, sozialisieren sich, ich sehe die stolze Prinzessin Schulterblatt, den dunklen Prinzen Kopffüssler oder den unnachgiebigen Patriarchen Scheitelbein.

Lustvoll steige ich ein in das Sammelbecken perfekt in Form gebrachter und nachvollziehbar lebenstauglicher Monstrositäten, staune und freue mich über den forschenden und findenden Künstler Dirk Wunderlich.

Christoph Tannert, Rede zur Ausstellungseröffnung
Dirk Wunderlich: Ronin“, Kunsthandel Karger, Berlin
13. Februar 2020


Der Künstler Dirk Wunderlich zeigt in dieser wohlgeordneten Ausstellung Plastiken und Zeichnungen aus den Jahren 2002 bis 2019. Die zentrale Arbeit der Schau, um die die anderen Werke herum gruppiert wurden, trägt den Titel „Ronin II“. Die Rōnin waren herrenlose japanische Samurais während der Feudalzeit von 1185 bis 1868. Ein Samurai konnte herrenlos werden, wenn sein Herr starb, vom Shōgunat seines Amtes enthoben wurde oder wenn er bei seinem Herrn in Ungnade fiel und verstoßen wurde.

Wunderlich koppelt hier seinen persönlichen und poetischen Raum-Begriff an das Thema der Bindungslosigkeit durch einen Schicksalsschlag, an den Zusammenbruch des persönlichen Koordinatensystems durch einen schweren Einschnitt in die Lebensplanung, mit dem er selbst und seine Familie vor einiger Zeit konfrontiert war. Ganz und gar nicht illustrativ und ohne den Umweg über das Narrative werden mit dieser vertikalen Markierung im Raum gedankliche Prozesse in Gang gesetzt. Wir stehen einem merkwürdigen Mischwesen mit glatter Außenhaut gegenüber, der ein unerklärliches Kräftefeld innewohnt. Seine Erscheinung ist eindeutig zweckfrei, den Raum, den diese Freiheit lässt, kann der Mensch ob seiner Fülle von Vorstellungen nur schwer auf Distanz halten.

Assoziationen und damit verbundene Gefühle füllen zwangsläufig das Vakuum aus. Zunehmende Verunsicherung beginnt sich breitzumachen. Sie begleitet einen über die Zeit des Ausstellungsrundgangs. Was kein Makel ist.

Wunderlich interessiert sich für Wissenschaft und Technik, Mikrobiologie, für Kampfkunst, für das Strukturelle, für das, was unser Dasein bedingt. Wir können uns nicht sicher sein, in welche Zeit und welche Sphären der Künstler uns hier entführt. Ist es etwas Vorzeitliches oder etwas Endzeitliches oder eine gänzlich neue Zeit, eine posthuman Zukunft? Befinden wir uns noch auf unserem Planeten oder bereits in einer anderen Sphäre? Ist das die Postapokalypse?

Manche Figuren wirken wie versteinerte Erscheinungen, Körperpassstücke, Minibehausungen. Material nicht als Zeichen, sondern als Empfindung: die Darstellung der Fragilität des Menschen und seines Umraums durch die Fragilität des Materials.  Aber seine „Wesen“ sind uns zugewandt, sie stehen uns neugierig und neugierig machend gegenüber, nicht feindlich. Sie haben eine Schauseite, ein Antlitz, in dem sich Fremdes und Bekanntes spiegeln. So wie Dirk Wunderlich Gewachsenes und Gebautes zu Prototypen einer noch nicht identifizierten Lebensweise gestaltet, fahndet er weder nach dem traditionellen Abbild der Wirklichkeit noch nach einer abstrakten Chiffre, die der Wirklichkeit entgegengestellt werden kann. Aber auch wenn diese Formen ihr Zustandekommen etwas Fremdem verdanken: in dieser Ausstellung geht es nicht wirklich um eine unerwartete oder sogar angstmachende Zukunft. Es geht um uns, jetzt und hier.

Was Dirk Wunderlich geschaffen hat, mag uns auf eine unbekannte Evolutionsstufe entführen. Mit dem, was er an Organischem und Architektonischem mixt, will uns aber daran erinnern, dass wir in einer Zeit leben, in der es bereits eine Vielzahl von Entwicklungen gibt, die eine transhumanistische Veränderung der Gesellschaft plausibel erscheinen lässt.

Seine Lieblingsmaterialien sind Styrodur, Polyurethan-Schaum, teilweise Bambus und Epoxydharz (aufgetragen in sehr vielen Schichten). Verwendung finden außerdem Knochen und Bronze. Der Riesenfloh-artige „Volvox“ von 2002 ist ein Aluminiumguss. „Atomok“ verknäult seine Spinnenbeine.

Die menschliche Dimension als Maßstab für die Welt ist ohne Gültigkeit. Seltsames stelzt in den Raum. Ob nun weltsüchtig oder weltflüchtig, wir wissen es nicht. Die unmöglichen Körper haben Höhlungen, Durchbrüche. Sie sehen wie Raumkapseln aus, geben sich wie technoides Design, imitieren Pagoden. Vielleicht sind sie Module für eine „technische Utopie“.  Das alles ist gar nicht so weit hergeholt. Für Unterwasserbauten und Unterwasserstädte interessieren sich immer mehr Architekten heutzutage. Sie wollen künftig Häuser und Städte mitten im Meer errichten.  Dass sich ein Mensch ins Reich der Tiefsee flüchtet und dort „eine Hoffnung für spätere Zeiten, wenn die Menschheit reif ist, für ein neues besseres Leben“ sieht – das galt zu Zeiten von Jules Vernes „Kapitän Nemo“ als Science-Fiction, und wäre es eigentlich heute noch. Wenn es nicht Entwürfe wie die von Sarly Adre Sarkum gäbe, sog. Waterscrapers, deren formale Koordinaten den Gebilden von Dirk Wunderlich im Geiste gar nicht unähnlich sind.

Viele Werke Wunderlichs sind nummeriert. Es ist richtig , wenn sie hier an Seriennummern in der Industrie denken. Im Kunstzusammenhang kommt diese Bezeichnung durchaus einer Titelgebung gleich. Was wir hier sehen, halte ich für absolut contemporary, weil dieser Künstler sich wieder mit Gegenständlichkeit, mit Symbolik, ausgeprägtem Materialbewusstsein, Haptik und Sinnlichkeit einlässt. Man schreitet um seine Figuren herum, angezogen durch deren farbige, glatte Oberfläche, und plötzlich ist man sich nicht mehr sicher: Dirk Wunderlich erkämpft, wie inzwischen fast alle Zeitgenossen, seinen Werken einen realen und einen geistigen Freiraum. Durch deren Bindung an das Fiktionale wie auch an ganz reale Modelle für fiktionale Filmwelten wird jeder Einordnungsversuch zum Abenteuer. Wunderlichs Skulptur-Auffassung, mit der er Material, Form und Farbe zu einer autonomen Erfahrung zu konzentrieren versucht, ist stil-offen, denn die klassische und die moderne Skulptur, sind längst begraben. 

Und nun noch eine Bemerkung zu den mit Pinsel und Tuschen ausgeführten Zeichnungen des Künstlers: Alle Künstler jeder Kunstrichtung und jeder Kunsttechnik haben gezeichnet und werden zeichnen, auch die, welche sich ausschließlich den so genannten Neuen Medien widmen werden und wollen. Wunderlichs Zeichnungen sind vollkommen eigenständig und wollen vor allen Dingen unter anthropologischem Gesichtspunkt gelesen werden: bezüglich Schutz der Natur, des Menschen, des Individuums, der Kreativität und der menschlichen Werte – Themen, die heute hochaktuell sind.  Was bedeutet das Zeichnerische für diesen Künstler? Gewöhnlich dient das Zeichnen dem Drängen hin zu den eigentlichen Werken, auf die sich der Künstler ausrichtet.
Offensichtlich ist das aber im zeichnerische Werk von Wunderlich nicht der Fall. Denn es überzeugt in erster Linie durch seine völlig Eigenständigkeit gegenüber der Entwurfszuordnung. Was in Wunderlichs Zeichnungen aufscheint, ist die dynamische Theorie der Natur, die auf die Energieströme, deren Begegnungen, Transformationen und den Austausch setzt. Und von dorther kann man eben auch den Menschen als eine Kreuzung, Ballung, Brandung, Transformation, Speicherung und als Aussender verschiedenster Energieströme oder Ladungen auffassen. Entsprechend fluid verströmen sich die Formen in seinen Blättern. Das in einer Zeit, in der die mikroskopischen Tendenzen der Naturwissenschaften die Dimensionierungen der Welt vielfach vermehren und damit die differierenden Strukturen der Existenzebenen in der Welt. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass diese Zeichnungen mediumistische Kunst sind. Sie kommen ganz aus dem Inneren, spiegeln die menschliche Psyche und setzen den Ausdruck von Seelenzuständen in Szene.

Durch sie gelangen wir an Orte der Verzauberung wie auch des Unheimlichen während sie uns Labyrinthe des Unbewussten öffnen, die uns aus unserem alltäglichen Raum-Zeit-Gefüge herausführen.